Mentale Gesundheit geht uns alle an - oder etwa nicht?
- Iris Bruckner
- 16. Juni
- 4 Min. Lesezeit
Wenn man die letzten Wochen Revue passieren lässt, könnte man meinen, wir stehen als Gesellschaft unter Dauerstrom.
💔 Ein Amoklauf in Graz mit elf Todesopfern.
✈️ Der Absturz der Air India mit über 270 Toten.
🕊️ Der Krieg zwischen Israel und Iran.
Und daneben: Ukraine, Corona, Wirtschaftskrise, Klimathemen.
Man könnte meinen, wir werden kollektiv auf eine mentale Belastungsprobe gestellt – und das immer wieder.
Doch wie bleiben wir in all dem mental gesund?
Wie gelingt es, innerlich stabil zu bleiben, wenn im Außen gefühlt alles ins Wanken gerät?
Gerade weil wir als Einzelpersonen nicht alles beeinflussen können, braucht es ein viel stärkeres Bewusstsein dafür, was wir sehr wohl beeinflussen können – und das beginnt bei uns selbst:
bei unserem Umgang mit Stress, Emotionen, Konflikten, aber auch mit unserem Mitmenschen.

Was ist mentale Gesundheit eigentlich – und was nicht?
Mentale Gesundheit bedeutet nicht bloß die Abwesenheit von psychischer Erkrankung.
Sie umfasst viel mehr:
✅ Arbeitszufriedenheit
✅ Selbstwirksamkeit
✅ Lebensfreude
✅ emotionale Belastbarkeit
✅ Sinnorientierung
✅ soziale Verbundenheit
✅ Fähigkeit zur Regulation von Gefühlen
✅ ein stabiler Umgang mit Veränderungen
✅ Bewusstsein für eigene Bedürfnisse
Mentale Gesundheit ist nicht das stille „Funktionieren“ nach außen.
Sie ist ein aktiver Prozess, eine Fähigkeit, die gepflegt, gestärkt und gesellschaftlich anerkannt werden muss.
Psychische Belastung ist oft unsichtbar – und genau das ist das Problem
Während man einen Gips, eine Narbe oder ein Pflaster sofort erkennt, bleibt eine psychische Belastung oft unsichtbar.
Niemand sieht auf den ersten Blick:
– die schlaflosen Nächte,
– das ständige Gedankenkarussell,
– die innerliche Unruhe,
– die Konzentrationsprobleme,
– die Reizbarkeit,
– oder die psychosomatischen Beschwerden, die viele als „normal“ abtun.
Und genau hier liegt die Gefahr:
Dass Unwohlsein zur Norm wird.
Dass Menschen mit chronischem Stress, innerem Druck oder emotionaler Überforderung belächelt oder gar ignoriert werden.
Dass man eher irritiert reagiert, wenn jemand dauerhaft gut schläft, ruhig isst oder keine Beschwerden hat – als wäre mentales Wohlbefinden die Ausnahme und nicht der Normalzustand.
Wie begegnen wir den Geschichten anderer Menschen?
Was braucht es, wenn dir jemand anvertraut:
„Ich kann seit Wochen nicht schlafen.“
„Ich bin ständig erschöpft.“
„Ich fühle mich innerlich leer.“
Kannst du zuhören?
Kannst du mitfühlen, ohne sofort zu werten?
Oder hast du – wie viele von uns – Sätze in dir, wie:
„Ach, das geht schon vorbei.“
„Das hat doch jeder mal.“
„Du darfst nicht so sensibel sein.“
Diese inneren Überzeugungen – unsere Glaubenssätze – prägen, wie wir mentale Gesundheit sehen und leben.
Und genau hier beginnt Veränderung: Im Erkennen, Infragestellen und Umdenken.
Schon Kinder spüren: Gefühle brauchen Raum
Ein zentrales Thema: der Umgang mit eigenen Gefühlen und Bedürfnissen.
Dürfen Kinder heute noch wütend sein – ohne „unartig“ zu gelten?
Dürfen sie traurig sein – ohne sofort abgelenkt oder getröstet zu werden?
Dürfen sie sich überfordert fühlen – und trotzdem „genug“ sein?
Viele Erwachsene haben nie gelernt, ihre Emotionen zu benennen –
weil sie sie nie benennen durften.
Die Forschung zeigt deutlich:
🧠 Wenn wir in Worte fassen können, wie es uns geht,
beruhigt sich die Amygdala – das Stresszentrum im Gehirn –
und unser Nervensystem kann sich regulieren.
Doch was passiert, wenn all diese Gefühle nicht benannt, nicht verstanden, nicht begleitet werden dürfen?
Wenn Kinder früh lernen, dass Wut stört, Traurigkeit „unnötig“ ist und Angst lieber ignoriert wird?
Dann fehlt nicht nur ein gesundes emotionales Fundament – es fehlt auch die Fähigkeit, für sich selbst einzustehen.
Denn wer nicht gelernt hat, seine Gefühle wahrzunehmen und zu verbalisieren, hat es später oft schwer, sich abzugrenzen, Hilfe zu holen oder Missstände zu benennen.

Iris Bruckner - Psychologische Beratung I Supervision I Mentaltraining I Beziehungscoaching
„Das war schon immer so.“ – wirklich?
Und genau hier schließt sich der Kreis – auch in Bezug auf Themen wie Mobbing.
Denn ein Kind, das nicht gelernt hat, sich selbst emotional zu verstehen, geschweige denn auszudrücken, ist oft auch ein Kind, das Schmerz und Verletzung still erträgt.
Und leider sind es oftmals genau diese Kinder, die besonders gefährdet sind, zum Ziel von Ausgrenzung, Abwertung oder Mobbing zu werden.
Noch tragischer wird es, wenn die Umwelt – sei es Familie, Schule oder Gesellschaft – nicht erkennt, wie tief solche Erfahrungen reichen.
Denn viel zu oft wird Mobbing verharmlost:
„Das war früher auch so.“
„Da muss man durch.“
„Das stärkt den Charakter.“
Doch Verharmlosung schützt nicht – sie macht sprachlos.
Was nicht gesehen und nicht verändert wird, wirkt weiter – meist im Stillen, aber oft mit großer Kraft.
Veränderung beginnt mit Bewusstsein
Die Generation Z macht es uns vor:
Sie spricht offen über mentale Gesundheit.
Sie stellt Fragen.
Sie fordert ein Umdenken.
Und doch gibt es noch viele Widerstände:
💬 „Work-Life-Balance? Das geht sich nicht aus.“
💬 „Früher hat auch keiner gefragt, wie es mir geht.“
💬 „Psychisch stabil ist, wer nicht jammert.“
Zwischen diesen Fronten stehen viele – und vergessen dabei, dass mentale Gesundheit kein Luxus ist, sondern eine Grundvoraussetzung für ein funktionierendes Miteinander.
Was braucht es jetzt?
Es braucht:
🟡 Räume für Gespräche – echte, ehrliche Gespräche.
🟡 Bildung, die auch emotionale Intelligenz vermittelt.
🟡 Schulen, die kindgerecht und gehirnlerngerecht arbeiten.
🟡 Arbeitsplätze, die Sicherheit UND Menschlichkeit bieten.
🟡 Familien, die nicht nur erziehen, sondern begleiten.
🟡 Gesellschaften, die nicht wegsehen – sondern zuhören.
Mentale Gesundheit geht uns alle an. Punkt.
Nicht „vielleicht“.
Nicht „wenn Zeit dafür ist“.
Nicht „nur für Betroffene“.
Sondern für uns alle.
Für unsere Kinder.
Für unsere Zukunft.
Denn in einer Welt, die laut ist, schnell, herausfordernd –
müssen wir lernen, aufeinander zu achten.
Einander zu sehen.
Uns gegenseitig zu halten – mental, emotional, menschlich.